NDR Buch des Monats August: Anja Kampmann – „Die Wut ist ein heller Stern“
Hedda hat es geschafft. Abend für Abend ist das Scheinwerferlicht auf sie gerichtet hoch oben in der Kuppel. Wenn sie sich am Seil hinunterlässt, zunächst langsam, dann immer schneller, und erst kurz vor den Krokodilen stoppt, halten die Leute den Atem an. Der Auftritt der jungen Akrobatin ist eine der Hauptattraktionen im berühmten „Alkazar“ auf der Reeperbahn. Aber im Jahr 1933, in dem der Roman beginnt, hält ein neues Publikum Einzug in das Hamburger Varieté.
Zwischen Varieté und Naziherrschaft
Es gibt viele Bücher über die Hitlerjahre. Das Besondere am Roman von Anja Kampmann ist die Erzählperspektive, ist der äußerst subjektive, auf Details gerichtete Blickwinkel ihrer ungewöhnlichen Heldin. Hedda ist im Schausteller- und Rotlichtmilieu des Hamburger Hafenviertels zu Hause. Die Außenseiterin, die sich aus großer Armut herausgekämpft hat und die sich nicht zurechtstutzen und in vorgegebene Rollenmuster zwängen lassen will, bekommt deutlicher als viele andere den zunehmenden Druck des Naziregimes zu spüren.
„Hamburg war nach der Weltwirtschaftskrise sehr arm und es gab viele Frauen, die einfach hungern mussten“, erzählt Anja Kampmann. „Viele von denen haben dann das Einzige verkauft, was sie noch hatten: ihren Körper. Ab 1933 wurden die dann kriminalisiert, wurden in Heime gesperrt, wurden zur Arbeit gezwungen und auch zwangssterilisiert. Ich wollte eine Stimme finden, die davon erzählt, aber die vor allem eine starke Lebendigkeit hat.“
Anja Kampmann ist sehr nah bei ihrer Hauptfigur. Sie erklärt und umschreibt nicht, wie sich Heddas Leben in den Jahren bis 1937 verändert, welche Alltagssorgen ihr zusetzen. Sie schafft vielmehr einen Raum für die ungemein präzisen Wahrnehmungen der jungen Frau. Hedda überblickt und ahnt nicht, was auf sie zukommt, sie lebt von Tag zu Tag, angetrieben von Unruhe, Hoffnung und Widerstandsgeist. Naiv ist sie keineswegs.
„Wenn ich schreibe, dann geht es mir um Intensität“
Anja Kampmann hat als Lyrikerin debütiert. Ihre Prosa prägt ein hochbewusster Umgang mit Sprache. Der Roman wird nicht durch den Plot bestimmt. Kampmann geht es darum, den Moment einzufangen und zum Leuchten zu bringen. Das gelingt durch knappe und präzise Sätze, eine oft vieldeutige und emotionale Sprache. Hedda empfindet Wut, Bitternis und Wehrlosigkeit – erst recht, als ihr Geliebter, ein Kommunist, von den Nazis ermordet wird. Aber sie ist auch voller Zuneigung, Zärtlichkeit und Fürsorge – vor allem für Pauli, ihren behinderten kleinen Bruder, den sie retten will. „Wenn ich schreibe, dann geht es mir um eine bestimmte Intensität. Man wird nicht unbedingt den Moment finden, wo jemand in einen Raum kommt und ich zähle das Mobiliar auf und erzähle genau, wer wie mit wem verbunden ist. Dieser erklärende Ton fällt weg zugunsten von Bildern, die sehr stark aus der Innensicht dieser Figur kommen.“
Zu diesen inneren Bildern gehört ein Keiler. Er ist eine Fantasie- und Schreckensgestalt, die überall lauert. Das Wildschwein ist die Inkarnation eines Systems, das immer bedrohlicher und raumgreifender wird, das Hedda und ihre Welt immer weiter ins Abseits drängt und – so die Angst der Ich-Erzählerin – schließlich in die Vergessenheit. Eine nur allzu begründete Befürchtung.
„Jetzt, im Jahr 2025, im Februar, kam das erste Mal ein Antrag im Bundestag darauf, dass man diese Frauen überhaupt als Opfer anerkennt. Das heißt, die haben das ihr ganzes Leben lang gar nicht mehr erlebt. Es ist Zeit, dass man sie mal hört“, findet Kampmann.